Fast die Hälfte der Studierenden an der Hochschule Geisenheim sind heute Frauen. Dies war jedoch lange Zeit nicht der Fall. Erst im Studienjahr 2022/23 sind die Zahlen, wie die untenstehende Grafik zeigt, auf knapp 50% gestiegen. Der Wandel ist nicht selbstverständlich und ging Hand in Hand mit gesellschaftlichen und institutionellen Veränderungen. Doch welche Entwicklungen stehen dahinter? Und welche gesellschaftlichen Rollenbilder stellten ein Hindernis dar? Diesen Fragen ging die Bachelorarbeit* von Frau Kleisinger, Studiengang Weinbau und Oenologie, aus dem Jahr 2024 nach.
Die Zeitreise begann in den frühen 1900er-Jahren, einer Ära, in der die erste Frauenbewegung in Deutschland einen wichtigen Erfolg verbuchte: 1909 wurde das Frauenstudium offiziell erlaubt. Ab diesem Zeitpunkt war es Frauen theoretisch möglich, alle Studiengänge zu belegen. In der Praxis sah das jedoch anders aus: Während einige Bereiche wie die Medizin Frauen bereits früher offenstanden, entschieden die Universitäten und Hochschulen selbst, ob sie Frauen aufnahmen (Birn, 2015).
Auch an der heutigen Hochschule Geisenheim – damals noch „Königlich Preußische Lehranstalt für Obst- und Weinbau“ – sind erste Studentinnen erst ab dem Jahrgang 1920/22 verzeichnet. Ein Grund für diese späte Teilhabe könnte der Ausschluss ländlicher Frauen und Arbeiterinnen aus der Frauenbewegung gewesen sein (Bussemer, 1985). Gerade in landwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen dauerte es länger, bis Frauen Zugang erhielten – nicht zuletzt, weil traditionelle Geschlechterrollen in ländlichen Regionen tief verwurzelt waren (Reusch, 2022b).
Der damalige Direktor der Lehranstalt, Prof. Dr. Muth, berichtete von elf sogenannten „Hörerinnen“ im Wintersemester 1920/21. Der Status „Hörerin“ entsprach seit 1908 dem einer Studentin. Dennoch blieb der Anteil weiblicher Studierender bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 im einstelligen Bereich. Während des Zweiten Weltkriegs schloss die Lehranstalt ihre Tore, doch auch bei einer Öffnung wäre Frauen das Studium in diesem Zeitraum verwehrt geblieben.
Nach Kriegsende öffnete die Hochschule 1946 erneut – diesmal auch für Frauen. In den ersten Nachkriegsjahren stieg der Anteil der Studentinnen auf bis zu 31 %, was im Vergleich zur gesamtdeutschen Situation auffällt: In der jungen Bundesrepublik war der Frauenanteil an Bildungseinrichtungen generell niedrig, denn die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft gestaltete das Bildungswesen nicht neu (Häderle, 2009). Eine große Enttäuschung für die Frauenbewegung, die sich aus ihrem Engagement während des Krieges mehr versprochen hatte. Der kurze Aufschwung hielt jedoch auch in Geisenheim nicht lange. Bis 1960 fiel der Anteil weiblicher Studierender auf lediglich 4%.
Ein Wendepunkt kam 1971, als Geisenheim in die neu gegründete Fachhochschule Wiesbaden integriert wurde. In den folgenden zehn Jahren stieg der Frauenanteil um 19 Prozentpunkte. Ein möglicher Grund hierfür sind die Nachwirkungen des wirtschaftlichen Aufschwungs in den sogenannten Wirtschaftswunderjahren, der tiefgreifende Veränderungen in Gesellschaft und Arbeitswelt mit sich brachte (Häderle, 2009). Die Hochschule selbst verzeichnete in dieser Zeit eine stark wachsende Studierendenzahl und baute ihr Angebot entsprechend aus (Claus, 1972).
Der höchste Frauenanteil wurde 1987/88 mit 267 Studentinnen erreicht. Danach stagnierten die Zahlen, bis 2002 erstmals über 300 weibliche Studierende eingeschrieben waren. Diese Entwicklung spiegelte eine größere Problematik wider: MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) hatten traditionell einen besonders niedrigen Frauenanteil. Oft sind Berufe, die als Männerdomäne wahrgenommen werden, von Frauen* weniger hoch angesehen (Becker, 2009).
Um diesem Trend entgegenzuwirken, entwickelte die Hochschule Geisenheim 2014 ihren ersten Frauenförderplan. Dieser enthielt konkrete Maßnahmen, um den Anteil weiblicher Studierender zu erhöhen – mit Erfolg. Bis 2016 stieg der Frauenanteil auf 39 %. Auch der 2021 erneuerte Frauenförder- und Gleichstellungsplan baute auf den positiven Ergebnissen auf und setzte unter anderem auf Programme wie Mentoring Hessen. Mentoring-Programme unterstützen Studentinnen in Bereichen mit geringer Repräsentation, insbesondere in MINT-Berufen. Dabei vernetzen sie erfahrene Mentorinnen mit Mentees, um durch Beratung, Wissensaustausch und Networking berufliche und akademische Ziele zu fördern (Michel- Alder, 2004). Die steigenden Zahlen an der Hochschule Geisenheim beweisen die Wichtigkeit weiblicher beruflicher Vorbilder und unterstreichen damit die empirischen Ergebnisse mehrerer Studien (Battistini & Bath, 2015). Ein weiterer wichtiger Faktor ist die zunehmende Bedeutung von Nachhaltigkeitsthemen in den MINT-Fächern. Studien zeigen, dass insbesondere Frauen von Umweltschutz- und Klimaforschungsthemen angesprochen werden (Mohaupt et al., 2017). Schon seit 2011 liegt der Fokus der Hochschule Geisenheim vermehrt auf Nachhaltigkeit und Klimaforschung. Studiengänge wie Ökologischer Weinbau und Umweltschutz und die Zertifizierung der Hochschule im Jahr 2023 als „Fairtrade University“ unterstreicht diesen Ansatz und könnten auch zukünftige Studienentscheidungen beeinflussen.
Zwischen 2019 und 2024 stieg der Frauenanteil auf 45 %. Heute sind fast die Hälfte der Studierenden an der Hochschule Geisenheim Frauen. Das zeigt: Gesellschaftlicher Wandel ist möglich, wenn institutionelle, kulturelle und soziale Faktoren zusammenspielen. Dennoch bleibt der Weg zur Gleichberechtigung eine Aufgabe, die fortlaufende Maßnahmen und Engagement erfordert.
*Bachelorarbeit: Lea Kleisinger (2024). Die historische Entwicklung des Geschlechterverhältnisses an der Hochschule Geisenheim: Einblicke in den Wandel des Anteils weiblicher Studierender. Referentinnen: Dr. Yvette Wohlfahrt, Dr. Anne-Katrin Kleih.
Die Bachelorarbeit ist in der Bibliothek der Hochschule Geisenheim einsehbar.
Battistini, M., & Bath, C. (2015). MINT gewinnt Schülerinnen, Einflussfaktoren von Schülerinnen-Projekten in MINT. In Hrsg. Augustin, Dittmann; Gotzmann, Sandra. Springer VS. doi.org/10.1007/978-3-658-03110-7
Becker, F. S. (2009). Why not opt for a career in science and technology? An analysis of potentially valid reasons. In E. Bogaard, M. van den; Graf (Ed.), Proceedings of 37th annual conference of SEFI. Attracting young people to engineering. Engineering is fun! 1-4 July 2009. Saunders-Smits, G.
Birn, M. (2015). Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland. Das Streben nach Gleichberechtigung von 1869–1918, dargestellt anhand politischer, statisti- scher und biographischer Zeugnisse (Band 3). Heidelberger Schriften zur Universitätsgeschichte.
Bussemer, H.-U. (1985). Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum: Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit. Beltz.
Claus, P. (1972). Geisenheim 1872 - 1972. 100 Jahre Forschung und Lehre für Wein-, Obst und Gartenbau. Eugen Ulmer.
Häderle, I. (2009). Vom Ausschluss zur Förderung. Frauen an der Universität Gießen 1908 bis 2008. Gießener Universitätsblätter, 42, 77–89.
Michel-Alder, E. (2004). Wissenschaftliche Nachwuchsförderung mittels Mentoring: Wegbeschreibungen fürs Wandern durch die Mentoringlandschaft. Zürich, Uni Frauenstelle – Gleichstellung von Frau und Mann, 61 S.
Mohaupt, F., Müller, R., & Kress, M. (2017). MINT the gap – Umweltschutz als Motivation für technische Berufsbiographien? Eine Bestandsaufnahme. In TEXTE 111/2017 Umweltforschungsplan des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. doi.org/ISSN 1862-4359
Reusch, M. (2022b). Wandel landwirtschaftlicher Geschlechterverhältnisse durch Diversifizierung? Erfahrungen von Frauen in der Direktvermarktung. GENDER – Zeitschrift Für Geschlecht, Kultur Und Gesellschaft, Heft 3, 11–26. doi.org/10.3224/gender.v14i3.02
Hinweis für gewaltbetroffene Frauen
Unter der Telefonnummer 08000 116 016 finden gewaltbetroffene Frauen rund um die Uhr Beratung und Unterstützung. Zusätzlich bietet das "Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen" auf der Seite www.hilfetelefon.de Chat- und E-Mail-Beratung an.